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Texhnolyze

"Aber natürlich höre ich zu."  Knappe zehn Minuten lässt Texhnolyze verstreichen, bevor es dem Zuschauer diesen Satz zu Gehör bringt - den ersten in der ganzen Serie. Dem voran geht eine unverständliche Aneinanderreihung psychedelischer Bilder und stummfilmartiger Sequenzen, die schon so manchen Otaku enttäuscht wieder umkehren ließ. Ein großer Fehler, wie sich nach obiger Einleitung nur allzu schnell herausstellt.

Das Mädchen hinter der Maske

Ran hinter Maske
Ran verbirgt sich hinter ihrer Katzenmaske - ein nicht nur zufällig oft sichtbarer Anblick in Texhnolyze

Dabei bleibt Texhnolyze auch nach den ersten zehn Minuten vorerst unverständlich, und schnell wird zudem klar: Bis ins Letzte verstanden werden kann und soll hier sowieso nichts. Das betrifft Setting wie Charaktere gleichermaßen. Eines der ersten Bilder, dass uns Texhnolyze anbietet - noch vor dem oben erwähnten Einleitungssatz, der mit fortlaufender Handlung subtil an Bedeutung zunimmt - ist ein junges Mädchen hinter einer Katzenmaske. Eine passende Chiffre, die restlos logisch aufschlüsseln zu wollen hier allerdings vergeudete Energie wäre. Denn genau darin liegt die große Stärke der Serie: Dass alles, Handlung, die Charaktere und deren Motivation, ja selbst das Setting - auch wenn dieses sich zum Ende hin ein gutes Stück weit aufklärt - nie den Bereich des kafkaesk-ungreifbaren komplett verlässt, unberechenbar und somit interpretierbar bleibt. Selbst wenn ich die komplette Handlung in Drehbuchform hier niederschriebe, bliebe doch eine Qualität an Texhnolyze übrig, die sich nicht einfach so quantifizieren (und damit aufschreiben) lässt. Das ist etwas, was man - ersten gegensätzlichen Gedanken zum Trotz - bei genauer Betrachtung nur von sehr wenigen Storys sagen kann. Natürlich hängt immer viel an der Inszenierung. Aber Texhnolyze muss (und wird!) jeder selbst erfahren, der sich darauf einlässt.

Das schließt auch den Umstand mit ein, dass Texhnolyze nicht Jedem zusagen wird. Manch einer wird es als durchschnittlich, wenngleich unterhaltsam, ein anderer vielleicht als ärgerlich empfinden. Ärgerlich deshalb, weil der Betreffende den Eindruck haben könnte, die Serie blase sich durch ihr scheibar gezieltes Zurückhalten an Informationen weiter auf, als es ihr zusteht. Insgesamt werden v.a. solche Zeitgenossen zu knabbern haben, die Serien und Filme stets schon bei Erstansicht durch das Auge des Kritikers betrachten, Dialoge, Pacing und Setting einer gnadenlosen Qualitätsprüfung unterziehen. In keinem dieser Bereiche muss Texhnolyze sich verstecken, doch in jedem für sich existiert gewiss zugleich Innovativeres. Die entscheidende Qualität kann, wie oben bereits angedeutet, nur unterbewusst-emotional wahrgenommen und daher nicht mittels rationaler Kritik herausisoliert werden. Man kann die Serie auch nach einem erfolglosen Versuch dieser Art sehr wohl noch mögen, doch entgeht einem das eigentlich Wesentliche. Gottlob bin ich immer erst bei Zweitansicht Kritiker.

Texhnolyze - soviel sei noch vorangestellt - wäre nebenbei bemerkt auch die Serie, die ich im Rahmen meiner momentanen Kenntnisse als die für Anime-Einsteiger wohl ungeeignetste der Wahl anführen würde. Und meine Kenntnisse betragen immerhin fast 2000 Episoden. Ich vertrete im Grunde nicht die Ansicht, dass man zum Konsum von Anime eine spezielle Form des Denkens entwickeln oder in gewisser Weise abgehärtet sein müsse - jeder, der das moderne Kino verträgt, verträgt auch Anime in zumindest vielen Facetten. Diese Meinung ist durchaus umstritten und potentiell einen Artikel wert. Doch Texhnolyze ist surreal und brutal gleichermaßen, und die besonderen Erzählstrukturen des asiatisch-japanischen Films - und ja, ein paar gibt es da doch - greifen hier in ihrer vollen Härte. Lieber aufsparen, und die wenigen besonders empfindlichen Gemüter, die selbst in unseren abgebrühten Tagen in Sachen Film noch verblieben sind, sollten die Ansicht vielleicht grundsätzlich überdenken.

"Wolf's Rain" meets "Ergo Proxy"

Doch genug der Vorrede, fassen wir die wesentlichen Grundinformationen zusammen. Dabei sei angemerkt, dass Texhnolyze Setting und Backgrounds einzelner Charaktere erst Stück für Stück zu erkennnen gibt; eine Unterscheidung zwischen Spoiler und gewöhnlichem Bestandteil des Grundsettings ist im Einzelfall gar nicht so einfach - auch ein Effekt der Tatsache, dass die Serie den Zuschauer zu Beginn in ein komplett unbekanntes Szenario wirft und vorerst dort belässt. Wer daher die volle Erfahrung ohne jedweden Abzug genießen möchte, könnte hier tatsächlich das Lesen einstellen - das wäre weniger tragisch, als es die Intuition womöglich nahelegt. Texhnolyze lebt von Atmosphäre von  Aufbau, nicht von Handlungsfakten. Während man bei einer Review zu Deathnote oder Haruhi Suzumiya - de facto 99% aller Storys, unabhängig von ihrer Qualität - das Setting exakt erläutern muss, um Neugierde auf die Resthandlung zu wecken, kann es hier durchaus sinnvoll sein, sich überraschen zu lassen (und die ersten zehn Minuten wacker durchzuhalten).

Die unterirdische Stadt Lux geht ihrem Ende entgegen. Wie lange es sie schon gibt, und worin die genauen Gründe für ihre Entstehung bestehen, erfahren wir nicht. Nur, dass es in der Oberwelt - in der jedoch nach wie vor Menschen leben und scheinbar gottgleich die Ereignisse der Unterwelt lenken - Probleme gab, im großen Stil weiterzuexistieren. Das frühe 21. Jahrhundert liefert dem gemeinen Zuschauer genug Stoff, sich das lebhaft auszumalen. By the way: Auch der Zeitpunkt der Handlung bleibt im Dunkeln und könnte, denkt man an andere Serien dieser Erzählart, ebensogut in fernster Vergangenheit angesiedelt sein. Ein postmodernes Szenario, wie es im Buche steht.

Ergänzt wird dieses Setting durch die Gesellschaftsstruktur von Lux: Eine einfache Zwei-Klassen-Geselschaft, in der die Armen in erbärmlichen Behausungen ums Überleben kämpfen, während die Reichen im materiellen Wohlstand existieren. das betrifft insbesondere auch die medizinische Versorgung mittels transplantierter Kunstorgane, des namengebenden Texhnolyze. Gleich zwei Beine dieser Art besitzt Kyogou Onishii, der als Anführer einer mafia-artigen Organisation - der wohl nicht zufällig so benannten Organo - zu Beginn der Serie die Stadt weitstgehend unter seiner Kontrolle weiß. Er ist es auch, der den vielbeschworenen Satz ausspricht: "Aber natürlich höre ich zu."

So altbekannt und wenig aufregend sich all das zunächst anhören mag, so viel wird schlussendlich herausgeholt. Texhnolyze ist nahezu vollständig charaktergetrieben, und im Zusammenspiel mit den oft undurchschaubaren Motiven seiner Protagonisten erweist sich das minimalistisch-undefinierte Setting der Serie als eine ihrer größten Stärken.

Die Stimme der Stadt

Von eben diesen Protagonisten gibt es zugleich soviele, dass eine vollständige Aufzählung an dieser Stelle wenigstens fragwürdig erschiene. Tatsächlich ist das aber auch gar nicht nötig: Die vier Charaktere mit der wohl größten Screentime (zumindest zu Beginn) stehen in wunderbar exemplarischer Form für den Rest der handelnden Personen und zeigen deutlich auf, wie die traditionellen Muster und Beziehungen von Gut und Böse, richtig und falsch bei Texhnolyze bis zur Unkenntlichkeit verwischen.

Kyougo Onishi
Kyougo Onishi

Wäre es nötig, genau einen Charakter zur Identifikation aus Texhnolyze auszuwählen, so wäre Kyougo Onishi wohl der Mann der Wahl. Und diese Tatsache spricht Bände: Onishi ist Mafiosi, kalt, berechnend und im Fall des Falles nicht im Geringsten zögerlich, kurzen Prozess zu machen, wie der Zuschauer mehrfach eindrucksvoll zu sehen bekommt. Dennoch: Er ist es, dem wir am ehesten geneigt sind, Vertrauen zu schenken. Wohl deshalb, weil Onishi - im Gegensatz zu nahezu allen anderen Figuren - über grundsätzliche Prinzipien und ein höheres Ziel verfügt, und das muss hier reichen. Sein Wille ist es, die Stadt Lux unter der Organisation Organo zu vereinigen und so für mehr Frieden und Wohlstand zu sorgen - nach Maßstäben eben jener Organisation, versteht sich. Damit repräsentiert Onishi zugleich den letzten, sich aufbäumenden Teil der Unterwelt, der das sich drohend abzeichnende Ende noch lange nicht akzeptieren will.

Ichise
Ichise

Ichise bildet in gewisser Hinsicht das exakte Gegenstück zu Onishi: Zwar ist sein Wille stark, nur ist es Zorn anstelle von Prinzipien, die sein - über weite Strecken zum scheitern verurteiltes - Handeln prägen.Zugleich ist Ichise die Figur in Texhnolyze mit dem stärksten Maß an Charakterentwicklung. Das ist spannend und anstrengend zu beobachten gleichermaßen, da die von ihm gesprochenen Sätze sich von Anfang bis Ende der serie an einer Hand abzählen lassen. Hier ist also erhöhte Aufmerksamkeit gefragt, umso mehr, da sein Charakter häufig präsent ist.

Eriko Kamata
Eriko Kamata

Eriko Kamata ist Onishis Leibärztin und stammt aus der Oberwelt. Ihr wissenschaftliches Interesse an der Erforschung des Texhnolyze ist der einzige Grund, warum sie sich nach Lux zurückgezogen hat. Schließlich liefert die tägliche Gewalt dort ausreichend Versuchsobjekte, und Erikos allgemeine Einstellung den Menschen gegenüber passt sich dieser Grundüberlegung an. Nur Onishi bildet eine Ausnahme, zu ihm empfindet sie eine tiefe Verbindung.

Ran
Ran, hier ohne ihre Maske

Ran schließlich ist der definitiv geheimnisvollste Charakter - und kann sich hiermit auch außerhalb von Texhnolyze problemlos in einer Toplist einreihen. Ihre vorbestimmte Position als Seherin beschert ihr häufig schlechte Vorahnungen, sodass sie das Schicksal sämtlicher Charaktere - allen voran Ichises - in subtiler Weise lenkt. Zugleich ist sie nach außen hin der passivste Charakter und noch schweigsamer und zurückgezogener als Ichise selbst, mit dem sie im Laufe der Zeit - so scheint es zumindest - eine tiefe, spezielle Form der Freundschaft  verbindet.

Fazit

Wie bewertet man etwas, dass sich jeder Rationalität entzieht? Soviel steht fest: Der mögliche Zuschauerkreis für Texhnolyze ist vergleichsweise klein. Figuren, die ohne ein Wort zu sagen subtil die Handlung lenken (oft über zahlreiche Episoden hinweg), das hochgradig postmoderne Setting sowie der zähe Einstieg setzen hier klare Grenzen. Mit Letzterem sind jedoch keineswegs die ersten zehn Minuten gemeint, die man definitiv abwarten sollte, bevor die finale Entscheidung fällt. Wer nämlich bis hierher gelesen hat und nicht vollends abgeschreckt, womöglich sogar positiv motiviert ist, für den oder die kann Texhnolyze sich als spannender Thriller im alternativen Gewand entpuppen.

 

Anzahl Episoden: 22

Genre: Mysterie, Scifi, Action, Thriller

Deutscher Publisher: SPVision, Nipponart

Erscheinungsdatum: 30.06.2006 bis 26.01.2007

FSK: Ab 16


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