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Violet Evergarden (B)

Im Westen übertrumpfen Serien einander mit komplexen, ausgefeilt verwobenen Handlungssträngen. Und als altgedienter Anime-Zuschauer ist man zudem so manch schräges Setting und nahezu jede Art absurder Prämisse mittlerweile gewohnt und dementsprechend schwer zu überraschen. Doch nicht immer ist das überhaupt notwendig: Ein gutes Charakterdrama alter Schule nämlich - und sei es auch, zugestanden, ab und an noch so kitschig - wirkt oft um Längen besser. Da kommt Violet Evergarden gerade zur rechten Zeit.

Die Anime-Offensive, welche Netflix um 2017 herum startete, brachte nach gefühlt endlosen Jahren flacher Ecchi-Komödien und endloser Slice-of-Life-Opern (oder halbherziger Hybride beider Genres) mal wieder frischen Wind in das Medium. Zwischen lustigen, graphisch ungewohnten Dramödien wie Little Witch Academia und dem ebenfalls optisch leicht von der Standardkost abweichenden Fantasy-Epos [TITEL] stach jedoch ein Titel ganz besonders aus der Menge heraus: Violet Evergarden, die neue Produktion von Kyoto-Animation. Letztere hatten sich zuvor bereits mit Shigatsu wa kimi no Uso, "Sekunden in Moll" einen nicht unerheblichen Ruf aufgebaut - scheinbar nicht zu Unrecht.

 

Wer diesen Blog regelmäßiger liest, weiß, dass Ausführungen produktionstechnischer Natur eher selten sind. Aber hier nicht ganz unwichtig, denn: Violet Evergarden ist nicht nur, soviel sei vorweggenommen, verdammt gut, sondern muss auch teuer gewesen sein. Das ist nicht dasselbe, nur zur Erinnerung. Das Wichtigste bei einer Serie sind und bleiben Story und Charaktere, danach erst folgen technische Aspekte. So lautet die erste Regel des Filmemachens. Hier jedoch ist beides in nahezu Perfektion gelungen - gerade zum Zeichnerischen daher später noch ein paar Worte. Nicht zu unterschätzen an dieser Stelle ist vor Allem der Faktor Netflix (bzw., Steaming überhaupt): In Zeiten, in denen auch Anime immer mehr dem harten Druck des Kapitalismus erliegt, ist ein solches Portal natürlich Gold wert. Keine Einschaltquoten, keine Produzenten, die vorab über - zu niedrige - Zuschauerzahlen spekulieren müssen. Wer Kunde ist, zahlt seinen Beitrag ohnehin, und das lässt mutig werden bei den Inhalten. Violet Evergarden ist sicher nicht das perfekte, aber doch ein Beispiel dafür, wie Streaming - aller äußerst berechtigten Kritik zum Trotze - die Filmlandschaft bereichert. Und das sollte hier kurz erwähnt werden.

Inhaltlich ist die Prämisse denkbar einfach, jedoch eingebettet in ein wunderschönes Setting: 

Wenige Monate nach Ende eines Fantasy-Ablegers des Ersten Weltkrieges wird die junge Protagonistin Violet Evergarden von ihrem einstigen Vorgesetzten, Leutenat-Colonel Claudia Hodgins, aus dem Krankenhaus abgeholt und in das malerische Städtchen Leiden überführt. Hodgins selbst hat zwischenzeitlich eine Firma eröffnet, welche sich einem eher ungewöhnlichen Geschäftsfeld - fast im Wortsinne - verschrieben hat: Dem Service nämlich, im Auftrag verschiedenster Kunden Briefe zu verfassen und zuzustellen, vom Geschäftsschreiben bis zum handfesten Liebesbrief. Violet nimmt all dies gewohnt pflichtbewusst zur Kenntnis, nur durchbrochen von ständigen Erinnerungen an ihren verstorbenen Freund und Befehlshaber, Major Gilbert. Bis ein Brief sie eines Tages aufschreckt, enthält er doch drei ihr unverständliche Worte: Ich liebe dich...  

Wer nun denkt, das klinge furchtbar kitschig, dem sei ehrlicherweise gesagt: Mitunter ist es das auch. Und auch ein breit angelegter Spannungsbogen ist hier - wie bereits eingangs erwähnt - nicht zu erwarten: Die Serie verläuft, nach ein paar einleitenden Folgen, im Mittelteil episodisch und führt erst gegen Ende wieder in eine geschlossene Handlung über. Dies ist aber kein Nachteil: Im Mittelpunkt steht die Charakterentwicklung Violets, welche sich nach ihrem Schlüsselerlebnis in Episode 1 entschließt, selbst den Weg einer "Akora" ("Autonome Korrespondenz Assistentin") zu beschreiten. Hodgins gewährt ihr diesen Wunsch, nicht ohne ein gütiges Lächeln: Lernen wir Violet doch als emotionslose, vom Krieg traumatisierte Heranwachsende kennen, welche sich die nun denkbar größte Herausforderung gestellt hat. Konflikte vorprogrammiert.

Die Charakterentwicklung, welche Violet in den darauf folgenden zwölf Folgen hinlegt, sucht im Anime-Bereich - und durchaus auch darüber hinaus - ihres gleichen. Auch wenn unglaubwürdige Sprünge an ein bis zwei Stellen nicht ganz ausbleiben, sind diese angesichts des Gesamtwerks und vieler kleiner, emotional nachhaltiger Momente doch verzeihlich. Ungewohnt angenehm ist zudem, dass auch Nebencharaktere tief beleuchtet werden und teils ganze Episoden spendiert bekommen. Hier zahlt sich das gewählte Format voll aus!

Zu Handlung und Charakteren lässt sich somit spoilerfrei nicht viel Weiteres sagen, was jedoch auch nicht nötig ist. Tatsächlich greift in diesem Punkt die berühmte "Drei-Episoden-Regel" recht gut: Etwa solange sollte man Violet Evergarden eine Chance geben, um einschätzen zu können, ob das Drehbuch den eigenen Nerv trifft. Zwar ist man im episodischen Mitteleil damit noch nicht angelangt, doch der grundlegende Eindruck stimmt.  

Interessant gestaltet sich auch die Welt, in welcher die Story angesiedelt ist. Das betrifft sehr viel weniger den Inhalt, als viel mehr die Präsentation desselben, von der sich ebenfalls diverse Werke der Fantasy und Science-Fiction noch eine Scheibe abschneiden können: Anstatt nämlich möglichst viel möglichst anders zu machen und diese Unterschiede dann mit Pauken und Trompeten in minutenlangen "Erklär-Sequenzen" an den Zuschauer heranzutragen (meist "verdeckt" dadurch, dass der Protagonist etwas vermeintlich nicht versteht), fallen die Differenzen zwischen der Welt von Violet und der unseren eher gering aus. Und wichtiger noch: Dort, wo es sie gibt, wird kein Trara darum gemacht. "Sehr viele Menschen können noch immer nicht lesen und schreiben", sagt Hodgins zu Violet, als er seine Firma präsentiert. Gefragt hat sie ihn nicht danach, und er selbst belässt es bei diesem einen Satz. Das Auftreten der Kunden sowie das Verhalten der Empfänger lehrt uns als Zuschauer, dass solch fremdverfasste Briefe in Violets Welt gesellschaftlich anerkannt sind. Ein nächtlicher Fahrradkurier und eine Bemerkung von Hodgins klären uns auf, dass auch Konkurrenzunternehmen existieren - man muss es uns nicht sagen. Show, dont tell, so lautet hier die goldene Regel.

Ansonsten halten sich die phantastischen Elemente - Gott sei Dank - in Grenzen, denn hier würden sie nur ablenken. Außer Violets Adamant-Prothese für ihre verlorene Hand - welche jedoch keine weitere Handlungsbedeutung gewinnt - sowie einem leichten Touch von Steampunk ist zumindest mir nichts aufgefallen. Die Welt könnte dem Europa des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entsprungen sein, und natürlich darf auch hier die japanische Vorliebe für deutsche Namen nicht fehlen. So eben das erwähnte Städtchen Leiden und - erneut ein witziger Fehlgriff, das darf vorkommen - Leutenant Colonel Hodgins, der wirklich Claudia mit Vornamen heißt.

Abschließend, wie versprochen, noch ein paar Worte zum Zeichnerischen sowie zur technischen Qualität allgemein. Anders als die meisten Anime-Fans, die Hobby-Kritiken schreiben, gehe ich auf diesen Punkt nicht jedesmal gesondert ein, da meiner Ansicht nach nur besonders herausstechende Werke es verdient haben hier erwähnt zu werden - und das meine ich, wohlgemerkt, in beide Richtungen. Violet Evergarden gehört erfreulicherweise zur oberen Spitze. Wie bereits bei Shigatsu wa Kimi no Uso beweist Kyoto Animation auch hier, dass sie ihr Handwerk nicht nur verstehen, sondern es vor Allem auch noch als ein solches betrachten. In Zeiten, in welchen immer mehr Anime mit lieblos gerenderten 3D-Charakteren und Partikeleffekten aus dem Zufallsgenerator daherkommen, ist das nämlich leider erwähnenswert. In besonderer Weise bemerkenswert ist eine schon früh zu sehende Szene mit einer Schreibmaschine, an welcher sich Violet in Anwesenheit anderer Akoras übt. Vermutlich wird sich jeder, der die Serie gesehen hat, im Anschluss wenigstens an diese eine Szene erinnern - egal, wie die sonstige Kritik ausfällt. Hier nämlich kommt alles zusammen, was Violet Evergarden so gut macht: Hervorragende Zeichenkunst, eine stimmungsvolle musikalische Untermalung sowie ein punktgenau geschriebenes Drehbuch mit passenden Dialogen. Auch das Timing stimmt: Nie hätte ich gedacht, dass solch ein trivialer Vorgang so viel Spannung erzeugen könnte. Ob das einschlägige Gerücht, die Szene sei handgezeichnet, der Wahrheit entspricht, kann ich nicht beantworten. Doch als Teaser taugt sie allemal.

Fazit

Violet Evergarden wird nicht allen gefallen. Mehr noch: Es wird die Zuschauer spalten. Wer Action, Spannung, konsistenten Storys mit klaren Plotpoints stets den Vorzug gibt, wird hier nicht bedient. Ecchi oder Fanservice aller Art fallen gänzlich weg (wobei ich inzwischen glaube, gerade dies wird viele Fans einmal erleichtern). Violet Evergarden setzt nahezu vollständig auf die Charakterentwicklung seiner Protagonistin sowie die der zahlreichen Nebenfiguren, macht dabei aber alles richtig - von ein, zwei kurzen Stolperschritten vielleicht abgesehen. Und ich selbst habe viel über das Thema "Kitsch" gelernt, den es - davon bin ich nun überzeugt - in zwei Varianten gibt: Der aufgesetzten, viel zu oft verwandten, welche eine Geschichte künstlich überhöht und ins Lächerliche zieht. Oder - weit seltener - so wie hier: Aus dem Vollen schöpfend, ehrlich und mit atmenden Charakteren angereichert, deren Emotionen dem Kitsch seine Glaubwürdigkeit verleihen. Absurd und etwas fremdbeschämend kann das in wenigen Augenblicken dennoch sein. Doch das ist das Leben manchmal auch.